2. August 2024 Rede von Frank Schwabe anlässlich des Gedenktags des Genozids an den Êzîden im Jahr 2014
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren,
vermutlich alle hier im Raum kennen das Buch von Nadia Murad mit dem Titel „Ich bin Eure Stimme“. Um was für eine Stimme es sich dabei handelt, das erklärt Amal Clooney, die Menschenrechtsanwältin und Freundin von Nadia Murad in ihrem Vorwort. Es ist eine Stimme, die sich nicht zum Schweigen hat zwingen lassen als Waise, Vergewaltigungsopfer, Sklavin oder Flüchtling. Es ist stattdessen die Stimme einer Überlebenden, Anführerin, Anwältin der Frauen, Friedensnobelpreisträgerin, Autorin, Menschenrechtskämpferin und Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen.
Heute kommt die Stimme der Êzîden in der Paulskirche in Frankfurt vielfältig zu Wort. Das freut mich sehr und das ist ein wichtiges Zeichen. Der Ort, an dem wir versammelt sind, steht in der deutschen Geschichte als ein Symbol des Kampfes für Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit. Dieser Ort steht aber auch dafür, dass dieser Kampf Rückschläge kennt und daher beides braucht: Mut und Ausdauer.
Als Menschenrechtspolitiker und Beauftragter der Bundesregierung für weltweite Religions- und Weltanschauungsfreiheit bin ich seit vielen Jahren mit dem Anliegen der Êzîdinnen vertraut, mit ihrem Leid, mit ihrem Mut, mit ihrer Ausdauer und ihrer Tatkraft.
Meine Begegnungen vor Ort in Irak haben mir eines besonders gezeigt: Auch der 74. Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden wird nicht dazu führen, dass die Stimme der Êzîdinnen und Êzîden verstummt! Diese traditionsreiche, einmalige und friedensliebende Religionsgemeinschaft darf nicht vertrieben werden aus der Region, die seit Jahrtausenden ihre Heimat ist!
Ich bin froh, dass Êzîdinnen und Êzîden bei uns in Deutschland in Sicherheit sind. Viele haben eine zweite Heimat gefunden. Sie bereichern unser Zusammenleben. Nur wenige in Deutschland wissen zum Beispiel, dass Judentum, Christentum und Islam, aber auch Buddhismus, Konfuzianismus oder Hinduismus im Vergleich zur êzîdischen Weltanschauung und Ethik sehr junge Religionsgemeinschaften sind.
Sowohl in Deutschland, sei es in Frankfurt oder Berlin als auch in der Heimatregion der Êzîdinnen und Êzîden, sei es in in Shingal, Lalisch oder Scherfedin eint uns an diesem Jahrestag eine gemeinsame Verantwortung. Die Verantwortung unserer Generation ist es – so wie Nadja Murad es gemacht hat – nach vorne zu schauen.
Wie so oft in ihrer langen Geschichte waren Êzîdinnen und Êzîden einerseits Opfer von Gewalt und andererseits aktive, starke und mutige Menschen. Die Überlebenden haben den Staffelstab des êzîdischen Volkes durch die neuerliche Gewaltgeschichte weitergetragen. Dafür gilt ihnen unser Dank und Respekt.
Wir müssen nun gemeinsam die von Leid überzogene und einmalige weltgeschichtliche Kulturregion erhalten und stärken. Êzîdinnen und Êzîden haben ihre Heimat mit einer unglaublichen Kraftanstrengung vor der vollständigen Zerstörung durch selbsternannte Gotteskriegern gerettet. Lalisch und Scherfedin sind zu weltweit bekannten Symbolen der Widerstandskraft, der Heimatliebe und des Überlebenswillens des êzîdischen Volkes geworden.
Niemand kann wollen, dass der sogenannte „Islamische Staat“ Jahre nach seiner Niederlage sein Ziel erreicht, indem Jesiden ihrer Heimatregion den Rücken kehren. Den moralisch und religiös irregeleiteten Kriegern ist es nicht gelungen, die êzîdische Kultur zu zerstören und die Menschen vollständig aus ihrer Heimat zu vertreiben. Nun kommt es darauf an, diese Heimat nicht preiszugeben, sondern zu erhalten und mit Leben zu füllen.
Gerne will ich dazu beitragen, dass die Heimat der Êzîdinnen und Êzîden genau dort lebendig bleibt, wo sie mit ihrer Spiritualität, Tatkraft und Kultur vor Jahrtausenden in so einmaliger Weise Wurzeln geschlagen haben.
Jetzt ist die Zeit, sich im Blick auf die Jahre vor uns konkret die praktischen Aufgaben und die politisch Verantwortlichen zu benennen. Lassen Sie mich daher schließen mit konkreten Schritten, die wir nun gemeinsam gehen können und müssen:
- Erinnerung an die Gräueltaten sind immer noch präsent, die Traumata des Genozids wirken nach. Direkt oder indirekt sind fast alle Familien betroffen. Umso wichtiger ist jetzt Vertrauen und Sicherheit dort zu schaffen, wo die êzîdische Heimat ist. Viele Êzîdinnen und Êzîden wollen nach zehn Jahren dorthin zurückkehren, von woher sie fliehen mussten – nach Shingal, die dort lebenden brauchen bessere Rahmenbedingungen. Die Angst vor neuerlichen Angriffen ist stetig präsent. Umso wichtiger, dass nun sehr bald die nächsten Schritte gemacht werden, um die Sicherheit im Shingal zu erhöhen. Zehn Jahre danach ist es an der Zeit. Einheiten lokaler Polizei und Sicherheitskräfte und eine lokale Verwaltung, die die Interessen der êzdîschen Familien in den Blick nimmt, sind eine gute Grundlage dafür. Zu den Grundlagen gehören aber auch der Zugang zu Bildung, Beschäftigung und die Befriedigung von Grundbedürfnissen. Ich bin zuversichtlich, dass in Bagdad und Erbil dafür gute Wege gefunden werden – gemeinsam mit êzîdischen Vertreterinnen und Vertretern.
- Der Zusammenhalt der êzîdischen Gemeinschaft wird auch gestärkt, wenn überlebende Frauen und Kinder nach ihrem Martyrium in Gefangenschaft vorbehaltlos nach Hause zu ihren Familien zurückkehren können. Selbstverständlich sollen Überlebende Zugang zur medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung haben. Ich bin sehr froh, dass Deutschland diese wichtige Arbeit in Irak unterstützt hat und auch weiterhin unterstützen wird.
- Was nicht in Vergessenheit geraten darf – den Opfern und deren Angehörigen und den Überlebenden muss Gerechtigkeit widerfahren. Die Aufarbeitung der Verbrechen ist im vollen Gange, auch die Bundesregierung unterstützt die Arbeit im Land. Doch immer noch ist das Schicksal Vieler ungewiss. Noch oft gibt es Berichte darüber, dass Frauen ihren Peinigern begegnen. Strafverfolgungsbehörden und Gerichte müssen alles daransetzen, dass die Verbrechen des IS geahndet und Drahtzieher der Gräueltaten juristisch belangt werden.
Das alles schafft stabile Rahmenbedingungen, um Wiederaufbau und Entwicklung voranzutreiben. Es schafft Rahmenbedingungen für den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur, für gesundheitliche Versorgung, für Bildung und für ein Auskommen, die Chance seine Familie versorgen zu können.
Eines muss klar sein – die Zukunft der Êzîdinnen und Êzîden liegt nur dann im Shingal, wenn deren Mut, Tatkraft und Ausdauer Früchte tragen kann und die Menschen in Sicherheit, Frieden und mit Hoffnung leben können.
Herzlichen Dank!
Stand: 02.08.2024